Das Thema des diesjährigen Valdai-Forums stand unter dem Titel „Eine polyzentrische Welt – Wie man sie nützt“. Wladimir Putin ging in seiner Rede auf die existentiellen Herausforderungen ein, vor der unsere Welt heute steht und eine neue Weltordnung dringend erforderlich macht.
Wladimir Putin: „Multipolarität ist Reaktion auf bisheriges
Streben, die ganze Welt nach einer Hierarchie auszurichten!„

Fjodor Lukjanow, Moderator und wissenschaftlicher Direktor der Valdai-Stiftung:
Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Freunde und Gäste des Valdai-Clubs!
Wir beginnen die Plenarsitzung des XXII. Jahresforums des Internationalen Diskussionsclubs „Valdai“. Es ist mir eine große Ehre, den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Wladimirowitsch Putin, auf diese Bühne zu laden.
Wladimir Wladimirowitsch, vielen Dank, dass Sie sich erneut die Zeit genommen haben, zu uns zu kommen. Der Valdai-Club hat das unglaubliche Privileg, Sie seit nunmehr 23 Jahren zu treffen und die drängendsten Probleme zu diskutieren. Ich wage zu behaupten, dass wohl niemand sonst sich damit rühmen kann.
Die XXII. Sitzung des Valdai-Clubs, die in den vergangenen drei Tagen stattfand, trug den Titel „Die polyzentrische Welt: Wie man sie nützt“. Wir versuchen, vom Verstehen und Beschreiben dieser neuen Welt zum praktischen Teil überzugehen, d. h. zum Verständnis, wie man in ihr leben soll, da dies noch nicht ganz klar scheint.
Aber wir sind, sagen wir mal, gegebenenfalls fortgeschrittene Anwender auf dieser Welt. Sie hingegen sind zumindest Mechaniker, vielleicht sogar Ingenieur einer polyzentrischen Welt, weswegen wir von Ihnen einige Gebrauchsanweisungen erwarten.
Wladimir Putin: Ich fühle mich vielweniger dazu berufen Anweisungen zu erteilen, zumal das auch nicht das Ziel sein kann: Denn viele Anweisungen und Ratschläge werden oftmals gegeben, um nicht befolgt zu werden. Diese Formel kennt man.
Ich werde mir erlauben, meine Meinung dagegen darüber abzugeben:
- was in der Welt geschieht!
- wo wir gerade stehen!
- welche Rolle unser Land dabei spielt!
- welche Entwicklungsperspektiven wir sehen!
Der internationale Diskussionsclub „Valdai“ hat sich tatsächlich bereits zum 22. Mal versammelt und solche Treffen sind nicht nur zu einer guten, schönen Tradition geworden: Die Diskussionen auf den Valdai-Plattformen bieten die Möglichkeit, die Situation auf der ganzen Welt unvoreingenommen und umfassend zu bewerten, sowie Veränderungen festzuhalten, um sie besser verstehen zu können.
Die Besonderheit und Stärke des Valdai-Clubs liegt zweifellos in seinem Bestreben und der Fähigkeit seiner Teilnehmer, über das Offensichtliche hinauszusehen. Nicht der Agenda zu folgen, die uns der globale Informationsraum aufnötigt, wobei hier gerade das Internet seinen Beitrag leistet – sei es gut, schlecht oder manchmal auch nur schwer zu verstehen, sondern um zu versuchen, eigene, originelle Fragen zu stellen, die eigene Sicht von Abläufen zu vermitteln und den Schleier zu lüften, der den kommenden Tag noch verhüllt. Das ist nicht einfach, aber manchmal gelingt es, auch hier bei uns im Valdai [Club]!
Doch, wir haben schon oft festgestellt, dass wir in einer Zeit leben, in der sich alles verändert – und das nicht nur sehr schnell, sondern grundlegend, möchte ich sagen. Natürlich kann niemand von uns vollständig in die Zukunft blicken. Das entbindet uns jedoch nicht von der Pflicht, uns darauf vorzubereiten, was alles passieren könnte. Wie die Vergangenheit und jüngste Ereignisse zeigten, sollte man praktisch auf alles vorbereitet sein. In solchen Zeiten der Geschichte trägt jeder eine besonders große Verantwortung für sein eigenes Schicksal, für das Schicksal seines Landes, wie für die ganzen Welt, zumal die Einsätze extrem hoch sind.
Der Jahresbericht des Valdai-Clubs widmet sich, wie gerade gesagt, diesmal dem Thema einer multipolaren, polyzentrischen Welt. Dieses Thema steht schon länger auf der Tagesordnung, aber heute verdient es besondere Aufmerksamkeit – da stimme ich den Organisatoren zu. Die bereits bestehende Multipolarität bestimmt den Rahmen, in dem Staaten agieren. Ich werde versuchen, die Frage zu beantworten, welche Besonderheiten die heutige Situation charakterisieren:
- Erstens gibt es einen viel offeneren, man könnte sagen, kreativeren Raum für außenpolitisches Handeln. Praktisch ist nichts im Voraus festgelegt und alles könnte auch anders verlaufen. Vieles hängt von der Genauigkeit, Ausgewogenheit, Ausdauer sowie Durchdachtheit der Handlungen jedes Teilnehmers im internationalen Austausch ab: Dabei kann man sich in diesem weiten Raum natürlich leicht verlaufen und die Orientierung verlieren, was, wie man sieht, recht häufig geschieht!
- Zweitens verhält sich der multipolare Raum höchst dynamisch. Veränderungen geschehen schnell, wie ich bereits sagte und manchmal ganz plötzlich über Nacht. Es ist natürlich sehr schwierig, sich darauf vorzubereiten, denn manchmal sind die Ereignisse unvorhersehbar und man hat sozusagen in Echtzeit, sofort zu reagieren!
- Drittens gestaltet sich dieser Raum – das ist wesentlich – viel demokratischer. Das eröffnet einer Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Akteure Möglichkeiten und [neue] Wege. Wahrscheinlich gab es niemals zuvor auf der Weltbühne so viele Länder, die Einfluss auf die wichtigsten regionalen und globalen Prozesse nehmen oder anstreben wollen!
- Viertens: Die kulturellen und historischen Besonderheiten sowie zivilisatorischen Besonderheiten der verschiedenen Länder spielen eine größere Rolle als je zuvor. Es gilt, Berührungspunkte und übereinstimmende Interessen zu finden. Niemand zeigt sich mehr bereit, nach Regeln zu spielen, die von jemandem weit weg festgelegt wurden, so wie es ein sehr bekannter Chansonnier in einem Lied besang.
- In diesem Zusammenhang ist fünftens zu beachten, dass alle Entscheidungen nur auf der Grundlage von Vereinbarungen getroffen werden können, die alle interessierten Parteien bzw. die überwiegende Mehrheit zufriedenstellen. Andernfalls würde es überhaupt keine tragfähige Lösung geben können, sondern nur lautstarke Phrasen und ein fruchtloses Spiel der Ambitionen. Demnach sind Harmonie und Ausgewogenheit erforderlich, um Ergebnisse zu erzielen!
Schließlich sind Chancen und Gefahren in einer multipolaren Welt untrennbar miteinander verbunden. Natürlich stellt die Schwächung des Diktats, welches vorrangegangene Perioden prägte, sowie die Erweiterung des Freiraums für alle einen unbestreitbaren Vorteil dar. Gleichzeitig wird es unter solchen Bedingungen ungleich schwieriger, dieses äußerst fragile Gleichgewicht zu finden und herzustellen, was an sich ein offensichtliches und außerordentliches Risiko in sich birgt.
Diese Situation auf unserem Planeten, welche ich hier versuchte kurz zu skizzieren, stellt ein qualitativ neues Phänomen dar. Die internationalen Beziehungen unterziehen sich einem grundlegenden Wandel. So paradox es auch klingen mag.
Die Multipolarität entstand in direkter Konsequenz zu den Versuchen, globale Hegemonie zu errichten und aufrechtzuerhalten:
Multipolarität ist die Antwort des internationalen Systems und der Geschichte auf das obsessive Bestreben, alle nach einer Hierarchie auszurichten, an deren Spitze die westlichen Länder stünden!
Das Scheitern eines solchen Vorhabens war nur eine Frage der Zeit, wie wir schon immer sagten. Auch nach historischen Maßstäben geschah das ziemlich schnell. Vor 35 Jahren, als die Konfrontation des „Kalten Krieges” sich zu seinem Ende hin zu neigen schien, hofften wir auf den Anbruch einer [neuen] Ära echter Zusammenarbeit. Es schien, als wären alle ideologischen und anderen Hindernisse [künftig] weggefallen, um gemeinsame Lösungen zuzulassen, wie:
- Probleme, welche die ganze Menschheit betreffen.
- Regulierungen und Beilegungen unvermeidlicher Streitigkeiten und Konflikte auf Grundlage gegenseitigen Respekts unter Berücksichtigung beidseitiger Interessen.
Ich möchte hierzu einen kleinen historischen Exkurs einschieben. In dem Bestreben, die Gründe für die Konfrontation zwischen den Blöcken zu beseitigen und einen gemeinsamen Sicherheitsraum zu schaffen, hat unser Land sogar zweimal seine Bereitschaft zum Beitritt zur NATO erklärt:
- Das erste Mal geschah dies im Jahr 1954, noch zu Zeiten der damaligen UdSSR.
- Ich sagte das zuvor schon öffentlich [in Bezug auf den zweiten Versuch]: Als wir mit Präsident Clinton [über eine Aufnahme in NATO] sprachen, sagte dieser zuerst, dass er es interessant fände und für möglich halte. Doch, dann [nach interner Rücksprache] sagte er am Abend, dass er sich mit seinen Leuten beraten hätte, doch das es zu diesem Zeitpunkt „unrealistisch“ sei. Doch wann dann würde es realistisch sein? Alles ging verloren!
Beide Male erhielten wir faktisch eine Absage und zwar von Anbeginn!
Ich wiederhole: Wir waren bereit zur Zusammenarbeit, zu nicht-linearen Schritten im Bereich der Sicherheit und globalen Stabilität: Doch, unsere westlichen Kollegen waren nicht bereit, sich von geopolitischen und historischen Stereotypen bzw. den Ketten ihres vereinfachten, schematischen Weltbilds zu befreien!
Kurz gesagt, wir alle hatten eine echte Chance auf einen anderen, positiven Entwicklungsvektor bezüglich internationaler Beziehungen. Doch, leider hat sich ein anderer Ansatz durchgesetzt:
Westliche Länder konnten der Versuchung nach absoluter Macht nicht widerstehen!
Dies stellte eine ernsthafte Versuchung dar: Um dieser Versuchung widerstehen, hätte es einer historischen Perspektive und guten Maßes an Voraussetzungen, einschließlich solcher intellektueller und historischer Natur in den Köpfen bedurft. Diejenigen, welche damals die Entscheidungen trafen, verfügten offenbar einfach nicht über eine derartige Qualifikation!
Ja – die Macht der USA und ihrer Verbündeten erreichte zum Ende des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Doch, es gibt und wird keine Macht geben, die in der Lage wäre, die Welt zu regieren, um allen vorzuschreiben, was sie zu tun und wie sie zu atmen hätten:
Es gab Versuche [zur Übernahme der Weltherrschaft], aber sie sind allesamt gescheitert!
Gleichzeitig ist es der Rede wert anzumerken, dass…
… vielen die sogenannte liberale Weltordnung akzeptabel, in gewisser Weise sogar bequem erscheint!
Ja, die Hierarchie schränkt die Möglichkeiten derjenigen ein, die sich nicht auf den oberen Etagen der Pyramide, wenn Sie so wollen, an der Spitze der Nahrungskette befinden, sondern irgendwo unten weiter, an ihrem Fuß. Dafür nimmt ihnen diese Position einen erheblichen Teil der Verantwortung ab. Von welchen Regeln? [Die Antwort lautet:] Man akzeptiert einfach die vorgeschlagenen Bedingungen, fügt Sie sich ins System ein, erhält seinen Anteil: „Sei glücklich, denke an nichts anderes!“:
Andere werden für Sie denken und [über Sie] entscheiden!
Was auch immer gesagt würde, wer auch immer es inzwischen zu vertuschen versucht – so war es tatsächlich. Die Experten, die hier sitzen, erinnern sich sehr gut daran und verstehen das.
Die Eingebildeten hielten sich für berechtigt, alle anderen zu belehren. Die anderen zogen es vor, sich den Mächtigen anzupassen, um ein gehorsames Objekt des Handels und Austauschs abzugeben, unnötige Probleme zu vermeiden und dafür einen kleinen, aber sicheren Bonus zu erhalten:
Solche Politiker gibt es übrigens auch heute noch genug in der alten Welt – wie in [EU-]Europa!
Diejenigen, die Einwände erheben und versuchen, ihre Interessen, Rechte und Ansichten zu verteidigen, werden bestenfalls, sagen wir es vorsichtig, als Sonderlinge angesehen und man deutet ihnen gegenüber an: „Sie werden sowieso nichts erreichen – finden Sie sich besser damit ab, geben Sie zu, dass Sie gegen unsere Macht nichts sind – ein Nichts!“ Die ganz Rebellischen werden von selbsternannten Weltführern ohne jede Zurückhaltung „erzogen“ und damit wird allen deutlich gemacht, dass Widerstand zwecklos sei.
Das hat zu nichts Gutem geführt. Keines der weltweiten Probleme wurde gelöst – stattdessen kommen ständig neue hinzu. Die in früheren Zeiten geschaffenen Institutionen der globalen Herrschaft funktionieren entweder gar nicht mehr oder haben ihre Wirksamkeit weitgehend verloren – so oder so. Egal, wie viel Potenzial ein einzelnes Land oder eine Gruppe von Ländern auch angesammelt haben mag, jede Macht stößt an ihre Grenzen!
Die russische Seite bzw. unser Publikum weiß, dass es bei uns ein Sprichwort gibt: „Gegen eine Brechstange hilft nur eine andere Brechstange!“ Dieses Phänomen hat sich verbreitet, nicht wahr? Das formt in der Essenz die Ereignisse auf der Welt: Es taucht immer wieder auf. Außerdem führt der Versuch, alles und jeden kontrollieren zu wollen, zu Spannungen, welche die innere Stabilität beeinträchtigen und bei Bürgern von Ländern, welche versuchen, diese Rolle der „Großen Mächte“ zu spielen, berechtigte Fragen aufwirft: „Wozu braucht man all das?“
Vor einiger Zeit habe ich etwas Ähnliches von unseren amerikanischen Kollegen gehört, die sagten:
Wir haben die Welt gewonnen, doch Amerika selbst verloren!
Dazu möchte man fragen: „War es das wert? Hat man überhaupt etwas gewonnen?“
Forstsetzung mit Teil 2 folgt
***
Übersetzung: UNSER-MITTELEUROPA
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