Von Susan Bonath

Man stelle sich vor, die deutsche Polizei stürmt einen von Juden mit organisierten politischen Kongress in Berlin. Beamte stellen den Strom ab, kaum dass die Veranstaltung begonnen hat, stoppen den Livestream, verkünden „Betätigungsverbote“ für geplante Redner; einen haben sie bereits am Flughafen abgefangen. Sie scheuchen die friedlichen Gäste aus dem Raum und verbieten das komplette, für drei Tage geplante Treffen.

Was wie eine Szene aus einer Diktatur mit antisemitischem Politprogramm klingt, geschah tatsächlich im April 2024 in Deutschlands Hauptstadt – zu Unrecht, wie das Berliner Verwaltungsgericht nun geurteilt hat. Dieses bewertete die Auflösung und das Verbot des Palästina-Kongresses als „jedenfalls unverhältnismäßig“, zumal die Polizei weder Auflagenverstöße noch sonstige „Äußerungsdelikte“ festgestellt habe. Selbst dann hätte sie zu „milderen Mitteln“ wie dem Ausschluss einzelner Redner greifen müssen.

„Mafiamethoden“

Der Reihe nach: Palästinensische, jüdische sowie deutsche Verbände und Gruppen hatten gemeinsam ihren alljährlichen Palästina-Kongress geplant. Mit Repressionen der deutschen Politik waren sie alle schon vertraut. Doch dieses mal, ein halbes Jahr nach dem Hamas-Überfall auf ihren Besatzer Israel und dem Beginn des israelischen Rachefeldzuges gegen den Gazastreifen, den internationale Juristen mehrheitlich als Völkermord einstufen, beäugte der Staat die Organisatoren ganz besonders intensiv.

Wie der mitorganisierende jüdisch-antizionistische Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ am Mittwoch auf Facebook mitteilte, hat die Berliner Polizei schon vor Beginn versucht, den Kongress zu verhindern. Sogar den Saalinhaber habe sie mit „Mafiamethoden“ bedroht, so der Verein.

Am Flughafen abgefangen

Kurz nach Beginn des Treffens also wurde Salman Abu Sitta als Redner zugeschaltet. Die Bundesregierung hatte gegen den heute 88-jährigen, in London lebenden palästinensischen Forscher, der als Kind direkt von der Vertreibung aus Palästina ab 1947 durch zionistische Milizen betroffen war, ein Einreiseverbot verhängt.

So erging es auch zwei weiteren geladenen Gästen: Yanis Varoufakis, ehemaliger griechischer Finanzminister, und Ghassan Abu-Sittah, palästinensisch-britischer Chirurg und Rektor der Universität Glasgow, der über seinen medizinischen Einsatz im Gazastreifen berichten wollte. Letzteren fing die Polizei direkt am Flughafen ab.

Redeverbote

Was keiner der Kongressteilnehmer damals wusste: Auch die Liveschalte Abu Sittas war, obwohl zuvor von den Behörden genehmigt, kurzfristig wohl als „No-Go“ eingestuft worden – dies offenbar auf Druck des Berliner Senats. Denn gegen ihn und die beiden anderen an ihrer Einreise Gehinderten hatten die deutschen Behörden in geheimer „Mission“ noch politische Betätigungsverbote verhängt – ein drastischer Eingriff in die Meinungs- und Redefreiheit. Im Fall Abu-Sittah wurde auch dieses Verbot inzwischen gerichtlich verworfen.

So endete die Veranstaltung wenige Minuten nach ihrem Beginn damit, dass die Polizei den Saal stürmte, die Stromzufuhr unterbrach, den Saal räumte und die Fortsetzung des Kongresses untersagte. Der mitorganisierende Verein „Jüdische Stimme“ zog dagegen vor Gericht – und hat nun gewonnen.

Politisch motiviert

Man könnte dazu folgende Schlagzeile bringen: Antizionistische Juden kämpfen gegen ihre repressive politische Ausgrenzung in Deutschland. Dass dies alles rein politisch motiviert war, ist mittlerweile gut belegt.

Wie die taz vom Prozess berichtete, hatte der damals für den Einsatz verantwortliche Polizeidirektor Stephan Katte als Zeuge bestätigt, kein Kongressteilnehmer habe gegen Auflagen verstoßen. Auch die Liveschalte von Abu Sitta hatten die Behörde beschränkt erlaubt. Angeblich habe Katte nicht gewusst, dass die Organisatoren nicht über das erst nach dieser Erlaubnis erlassene politische Betätigungsverbot gegen den Redner informiert waren.

Doch seine eigene politische Abneigung gegen die Akteure, die mutmaßlich mit der Haltung des Berliner Senats übereinstimmte, habe Polizeidirektor Katte vor Gericht sehr deutlich ausgedrückt: Wer „jemanden wie Abu Sitta“ sprechen lasse, zeige doch, „wessen Geistes Kind“ er sei.

„Persönliche Gefühle“ und politische Überzeugungen eines Polizeichefs als Verbotsgrundlage? Die Anwälte des Klägers Wieland Hoban, des Vorsitzenden des Vereins „Jüdische Stimme“, vermuteten das; und Katte selbst untermauerte diesen Verdacht, indem er von einer angeblich „emotional aufgeladenen Stimmungslage“ im Saal schwadronierte, die zu strafbaren Äußerungen führen müsse. Abgesehen davon, dass wohl vor allem die Polizei „emotional aufgeladen“ war, stellt sich die Frage: Seit wann verbietet es das deutsche Grundgesetz, emotionale Reden zu halten? Natürlich tut es das nicht.

Deutsches Parolen-Bingo

Das Gerichtsurteil steht in Verbindung mit ähnlichen juristischen Entscheidungen, die nicht nur allesamt zu spät gefällt wurden, um politische Repressionen von vornherein wirksam verhindern zu können. Es dürfte höchstwahrscheinlich auch kaum Auswirkungen auf die künftige staatsräsonale Praxis haben.

So erklärte das Berliner Verwaltungsgericht ein Versammlungsverbot von vor zwei Jahren am selben Tag für rechtswidrig. Dieses hatte die Polizei mit dem Slogan der Organisatoren „From the River to the Sea – you will get the hug you need“ (zu Deutsch: „Vom Fluss bis zum Meer – du wirst die Umarmung bekommen, die du brauchst“) begründet, der angeblich auf Nähe zur palästinensischen Widerstandsorganisation Hamas hinweise, die in Deutschland als terroristisch gilt. Die Richter beriefen sich jedoch auf den speziellen Kontext, der gerade „gegen eine Nähe zu einer terroristischen Vereinigung“ spreche.

Mit dem ersten Teil dieser Parole ist freilich die Region Israel und Palästina gemeint. Der zweite Teil lautet eigentlich: Palestine will be free – zu Deutsch: Palästina wird frei sein. Die deutsche Politik schreibt diesen Spruch der Hamas zu. Allerdings existierte der erste Teil des Slogans schon lange vor der 1987 gegründeten Hamas. Er steht seit 1977 im Programm des Likud, der Partei des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Diese beschwört damit die Schaffung eines Großisrael – ohne Palästinenser. Die deutschen Gerichte sind sich noch immer uneins über die Rechtmäßigkeit des Slogans. Das deutsche Parolen-Bingo geht wohl weiter.

„Existenzrecht“ für Staaten?

Auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen führte kürzlich die deutsche Staatsräson, das sogenannte „Existenzrecht Israels“, ad absurdum: Die Düsseldorfer Polizei dürfe Demonstranten nicht pauschal verbieten, „das Existenzrecht des Staates Israel in Abrede zu stellen“. Denn dies verwirkliche „für sich genommen“ keinen Straftatbestand. Und weiter:

„Vielmehr unterfallen eine kritische Auseinandersetzung mit der Staatsgründung Israels und die Forderung nach einer friedlich zu vollziehenden Veränderung bestehender Verhältnisse grundsätzlich dem Schutz der Meinungsfreiheit.“

Wie absurd das deutsche Beharren auf dem „Existenzrecht“ Israels als Staat ist, zeigt sich schon darin, dass es weltweit kein Gesetz gibt, das die Existenz irgendeines Nationalstaats als politisches Konstrukt vorschreibt. Das kann auch gar nicht geben, denn ein Staat ist nicht gleich die Bevölkerung, und Machtverhältnisse können sich ändern, Staaten sich umbenennen, zusammengehen oder sich trennen. Und denklogisch kann man sogar gegen die Existenz eines etwa kriegerischen Staates sein, um dessen Bevölkerung zu retten.

„Antideutsche“ Staatsräson-Satire

Sogar im repressiven Deutschland könnte man sich also ganz offen auf die Straße stellen und laut bekunden, gegen die Existenz Spaniens, Polens, Russlands, ja sogar der USA zu sein. Sollten die Regierungen der jeweiligen Staaten das überhaupt mitbekommen, würden sie bestenfalls müde lächeln. Denn so ein Bekenntnis ändert ja nichts an der Realität der Existenz der Staaten.

Ja, in der Bundesrepublik durften die sogenannten „Antideutschen“ nach der Annexion der DDR sogar zur Vernichtung dieses neuen Deutschlands durch Reanimation des berühmten „Bomber Harris“ aufrufen, der im Zweiten Weltkrieg für die Zerstörung vieler deutscher Städte mit Tausenden zivilen Toten verantwortlich war.

Es entbehrt wahrlich der Satire nicht, wenn sich nun ausgerechnet diese „Antideutschen“, die sich heute oft „Antinationale“ oder „Ideologiekritiker“ nennen, Israel- und US-Flaggen schwenkend den westlichen Imperialismus bejubeln und stumpfe rassistische Sprüche gegen Muslime klopfen, als oberste Hüter der deutschen Staatsräson und des sogenannten „Existenzrechts“ Israels aufspielen.

Kein Grund zum Aufatmen

Dass ein Gericht nun festgestellt hat, was von Anfang an klar war, ist zwar erfreulich. Der Palästina-Kongress konnte trotzdem nicht abgehalten werden. Und „von besonderer Tragweite“, wie die taz es ausdrückt, ist der Richterspruch ganz sicher nicht. Es ist kaum zu erwarten, dass die Polizei ab sofort weniger brutal und repressiv gegen Demonstranten und Kritiker vorgehen wird, die sich öffentlich gegen Israels jahrzehntelangen Siedlerkolonialismus und nunmehr live gestreamten Völkermord aussprechen.

Die autoritäre Verfolgung von Kritikern ist längst politisches Programm in Deutschland und der Europäischen Union (EU). Das zeigen beispielsweise die weiterhin bestehenden EU-Sanktionen gegen die deutschen Journalisten Alina Lipp, Thomas Röper und Hüseyin Dogru – ohne rechtsstaatliches Verfahren im Rahmen des vorletzten Russland-Sanktionspakets. Während Lipp und Röper vorgeworfen wird, „russische Propaganda“ zu verbreiten, beschuldigt die EU Dogru, mit „propalästinensischer“ Berichterstattung aus einer besetzten Universität heraus die deutsche Bevölkerung „im Sinne Putins“ aufgewiegelt zu haben.

Irgendwelche Verbindungen zu Russland konnten sie Dogru nicht nachweisen, wie er selbst im Interview mit der Tageszeitung junge Welt berichtete. So sitzt er nun faktisch mittellos in Berlin ohne Einkommen und Krankenversicherung und dürfte eigentlich nur noch unter einer Brücke verhungern. Denn jeder, der ihm Unterschlupf oder Essen spendet, könnte dafür belangt werden. Mit Lipp, Röper und vor allem Dogru haben die EU und Deutschland einen absoluten Präzedenzfall geschaffen – und die Pressefreiheit ausgehebelt.

Solange all dies weiter läuft wie in den letzten Monaten und Jahren, sind diese Urteile längst noch kein Grund zum Aufatmen. Sie sind noch nicht einmal ein Meilenstein in Sachen Rede- und Meinungsfreiheit. Sie sind höchstens ein schwaches Aufflackern dessen, was einst in Deutschland als ganz normal galt.

Mehr zum Thema – Palästina-Kongress: Veranstalter beklagen öffentliche Diffamierung und staatliche Repression

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