Von Henry Johnston
Einige Wochen nach Beginn des russisch-ukrainischen Krieges schrieb der belgische Ökonom Paul De Grauwe einen Artikel für die Webseite der London School of Economics mit dem Titel „Russland kann den Krieg nicht gewinnen“. De Grauwe, der kein Militärspezialist ist, zog seine Schlüsse aus einfacher Mathematik: Russlands BIP entsprach etwa dem von Belgien und den Niederlanden zusammen. Daher sei Russland, erklärte er, ein „wirtschaftlicher Zwerg in Europa“. Sein Militäreinsatz sei daher zum Scheitern verurteilt.
De Grauwe war keineswegs der Einzige, der Russland aus derartigen Gründen abschrieb. Wer hat noch nicht gehört, wie das BIP Russlands mit irgendeinem bescheidenen europäischen Land verglichen wurde? Man muss es nicht extra erwähnen, der Artikel ist nicht gut gealtert. Aber hier geht es nicht darum, De Grauwe zu widerlegen – die späteren Ereignisse taten das gut genug. Interessanter ist es, nach den tieferen – und weitgehend nicht untersuchten – Wurzeln seiner besonderen Denkweise zu suchen.
Tatsächlich reduzieren sich die Fragen auf: Macht es noch Sinn, sich so auf das BIP zu verlassen? Und wenn nicht, warum halten wir an einer wirtschaftlichen Kennzahl fest, deren Ruhm bei weitem ihre Macht, die Dinge zu erklären, übersteigt (und eine Menge Verzerrungen schafft)?
Das BIP entstand in den 1930ern als Werkzeug für Politiker, die versuchten, während der Weltwirtschaftskrise die Volkswirtschaft zu quantifizieren. Die Formalisierung des BIP wird dem in Russland geborenen amerikanischen Mathematiker und Ökonomen Simon Kusnets zugeschrieben.
Aber er war sehr deutlich, was dessen Beschränkungen angeht: „Der Wohlstand einer Nation kann kaum aus einem Maß des Nationaleinkommens abgeleitet werden.“ Und das war damals, als das Nationaleinkommen vor allem reale Produktivität maß und nicht Kram wie Derivatehandel über das Wetter.
Etwa zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die Volkswirtschaften vor allem industriell waren und die Schuldenstände niedrig, war das BIP ein tauglicher Näherungswert für die Kapazität. Nach dem Krieg wurde das BIP ein Baustein der großen Architektur der Nachkriegsordnung: Bretton Woods, der IWF und der Triumph der keynesianischen makroökonomischen Theorie.
Keynesianismus sieht die Volkswirtschaft wie ein Problem des Thermostats: Wenn die Nachfrage zu niedrig ist und die Produktion fällt, muss die Regierung die Nachfrage aus Steuermitteln erhöhen. Sein ganzes Programm hängt ab von der Messung, der Kontrolle und der Stimulation der gebündelten Nachfrage – genau das, was das BIP zu messen behauptet. Regierungen konnten daher ihrer Volkswirtschaft mit dem BIP den Puls fühlen, einen Stimulus setzen, wenn die Nachfrage schwächelte, und ihn absetzen, wenn Inflation drohte.
In den 1970ern brach jedoch der keynesianische Konsens zusammen, vor allem durch das Problem der Stagflation. Diese ist eine Kombination aus hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit, die die Theorie von Keynes nicht erklären konnte, da ihre Modelle annahmen, dass sich Inflation und Arbeitslosigkeit entgegengesetzt entwickeln.
Da betrat der Neoliberalismus der 1980er die Bühne: Reagan, Thatcher und der Konsens von Washington. Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung der Finanzmärkte wurden als Reformen verkauft, die das Wachstum steigerten, und das BIP wurde der Beleg dafür. Wenn das BIP stieg, was es natürlich unvermeidlich tat, „funktionierten“ die Reformen. Aber das bedeutete eine subtile Verschiebung. Das BIP hatte sich von einem Diagnoseinstrument in ein Symbol zur Legitimation eines neuen Satzes ansonsten zweifelhaft aussehender Politik verwandelt. Um es einfach auszudrücken: Die Keynesianer nutzten das BIP zur Feinabstimmung der Wirtschaft; die Neoliberalen nutzten es, um ihre Ideologie zu rechtfertigen.
An diesem Punkt verfolgte das BIP deutlich weniger produktive Herstellung und mehr finanzielle Transaktionen, die durch Hebelung aufgeblasen wurden. Dennoch behandelten Politiker, Investoren und die Medien es weiterhin als das autoritative Maß wirklichen Wohlstands. Sein symbolischer Ruf wuchs tatsächlich sogar, als seine empirische Gültigkeit verfiel. Zu diesem Punkt werden wir noch zurückkehren.
Eine kleine Nebenbemerkung: Viele Menschen erkennen einen der oberflächlichen Mängel des BIP – sein Scheitern dabei, sich an Unterschiede in den Preisniveaus verschiedener Länder anzupassen – und bevorzugen daher ein BIP, das in Kaufkraftparität (PPP) gemessen wird. Aber der Wechsel zu PPP löst das zugrundeliegende Problem nicht, denn er lässt die strukturellen Verzerrungen innerhalb des BIP unangetastet: die Finanzialisierung und Schulden. Das sind die Faktoren, die zu der stetig wachsenden Kluft zwischen dem realen Produktionserzeugnis und den finanziellen Transaktionen führen.
Denn weil das BIP alle Ausgaben gleich behandelt, ob sie nun aus Einkommen oder aus Schulden finanziert werden, kann es nicht zwischen einer originären Erweiterung von Produktionskapazität und schuldenfinanzierten Transaktionsströmen unterscheiden.
Dem liegt ein tieferer theoretischer Mangel zugrunde: Die moderne makroökonomische Theorie behandelt Finanzvermittlung (man denke an Goldman Sachs) immer noch als neutralen, effizienten Allokator von Kapital, und zählt daher eine Zunahme der finanziellen Aktivitäten als einen echten Wertzuwachs. Sagen wir es zusammen, ohne zu lachen: Beim Investmentbanking geht es darum, Kapital effizient an die richtigen Stellen der Realwirtschaft zu lenken.
Dass diese Behauptung sich in den heutigen, hyperfinanzialisierten G7-Staaten so hartnäckig hält, lässt sich nur durch einen blinden Fleck von Zivilisationsgröße erklären. Jeder versteht intuitiv, dass das Verschieben einer Immobilie oder die wiederholte Verbriefung des selben Stapels Hypotheken das gemessene BIP erhöht, ohne einen Wert zu schaffen. Diese Transaktionen erweitern Bilanzen, aber nicht Produktionskapazitäten, aber das BIP misst sie, als wäre eine Turbine hergestellt oder eine Brücke gebaut worden.
Aber wenn das Standardmaß für Verzerrungen so verwundbar ist, ist die offensichtliche Frage, warum nicht mehr Aufwand getrieben wird, um dieses schuldengetriebene Rauschen herauszufiltern. Aber sehr wenige Mainstream-Ökonomen begeben sich überhaupt auf diesen Weg. Einer, der das tut, ist Tim Morgen, ein Finanzanalytiker, der wichtige Arbeit bei der Erkundung der Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Energie geleistet hat. Er entwickelte ein eigenständiges Maß, das er C-BIP nannte, eine Schätzung des zugrunde liegenden wirtschaftlichen Produkts nach Entfernung der inflationären Wirkung von Schulden und Kredit. Von 2004 bis 2024 berechnete Morgan das globale Wachstum des BIP nach der konventionellen Methode auf 96 Prozent, aber auf Grundlage des C-BIP fällt es auf nur 33 Prozent.
Das ist eine ziemlich radikale Neufestlegung von Wachstumszahlen, die die Tatsache offenlegt, dass viel des verzeichneten Wachstums der letzten Jahrzehnte aus Kreditexpansion, Vermögensinflation und Konsum stammte statt aus neuer physischer Produktion. Morgan rechnet, dass jeder US-Dollar berichteten Wachstums von einer Zunahme neuer Nettofinanzverpflichtungen um mindestens neun Dollar begleitet wurde.
Morgan sorgt (zumindest meiner Kenntnis nach) nicht für eine Version seines Modells des C-BIP auf Länderebene, aber es liegt nahe, anzunehmen, dass der inflationäre Effekt von Schulden und Finanzialisierung in den G7 am deutlichsten ist.
Finanzen, Versicherungen, Immobilien, Mieten und Leasing zusammen ergeben knapp über 20 Prozent des US-BIP, während die Schuldenniveaus der Haushalte wie des Bundesstaats auf Rekordhöhen liegen und das Verhältnis der Finanzguthaben zum BIP seit den 1980ern explodiert ist. Europa unterscheidet sich nicht grundlegend. Würden die durch Schulden aufgeblasenen Transaktionen gestrichen, ergäbe das ein Schrumpfen des gemessenen BIP sowohl für die BRICS als auch für den Westen. Aber das Ausmaß der Schrumpfung würde sich unterscheiden.
Viele werden zu Recht darauf hinweisen, dass China und Teile der BRICS ebenfalls tief verschuldet sind. Aber es ist wichtig, wahrzunehmen, wie sich die Verbindung zwischen Kredit und realer Produktion vom westlichen Muster unterscheidet. Ein großer Teil des Kredits in China floss beispielsweise in physisches, anfassbares Vermögen – Infrastruktur, Wohnungsbau, Fabriken, Kraftwerke –, selbst wenn es sicher einige schlechte Investitionsentscheidungen und übertriebene Baumaßnahmen gab.
Also selbst wenn Chinas Kreditsystem überdehnt ist, hat ein bedeutender Teil der Kredite physisches Kapital erzeugt, nicht nur Ansprüche auf dem Papier. Chinas System ist daher im Inneren gehebelt, aber immer noch in aktuellen, realen Handelsüberschüssen verankert. Im Westen ist die Kreditschöpfung währenddessen marktgetrieben und auf der Suche nach Profit, und auch deutlich vermittelt durch private Banken und Finanzmärkte. Die Schuldenexpansion treibt vor allem Vermögensspekulationen und den Konsum an.
Das ist die verborgene Schwäche der westlichen Ökonomien. Nicht nur, dass die industrielle Produktion weitgehend verlagert wurde – ein Phänomen, das zumindest zur Kenntnis genommen wird –, sondern ein bedeutender Teil, der als wirtschaftliches Produkt gezählt wird, ist einfach eine Fata Morgana. Und wenn wir Schulden als einen Anspruch auf künftiges wirtschaftliches Produkt betrachten, glaubt irgendjemand wirklich, dass das zukünftige Produkt genügen wird, um den enormen Schuldenstapel auszugleichen, auf dem die Wirtschaften der G7 sitzen? Natürlich nicht.
Das alles sollte absolut offensichtlich sein. Und die Verzerrungen sollten offensichtlich sein. Wir wissen, zur Messung welcher Art von Wirtschaft das BIP geschaffen wurde. Wir wissen, wie sich die Struktur der (insbesondere) westlichen Ökonomien verändert hat. Wir wissen, dass der Kauf und der Verkauf von Derivaten keinen wirklichen wirtschaftlichen Wert erzeugen. Also warum halten wir so verbissen am BIP fest?
Diese Frage lässt sich nicht allein mit wirtschaftlichen Begriffen beantworten. Um da einen Sinn zu finden, müssen wir uns aus den sicheren Zonen der Ökonomie herausbewegen und das größere Paradigma untersuchen, in dem unsere aktuellen ökonomischen Annahmen verständlich sind. Das ist der Moment, an dem wir zum Gedanken des „symbolischen“ Rufs des BIP zurückkehren.
Politiker und Ökonomen des 21. Jahrhunderts sehen sich gerne als Vorbilder von Rationalität, die über technokratische Systeme herrschen. Das ist ein unverletzliches Dogma unserer Zeit. In Wirklichkeit sind wir ebensosehr durch die nicht in Frage gestellten Annahmen unserer Zeit gebunden wie jede Zivilisation der Vergangenheit. Unsere wirtschaftlichen Theorien sind nicht neutral, objektiv oder universell; sie sind eine konstruierte Linse, die unsere spezifischen Werte übermittelt und unsere spezifischen blinden Flecken nicht antastet. Das BIP ist ein erstklassiges Beispiel dafür.
Ein Alien-Ökonom, der unsere gegenwärtige Zivilisation beobachtet, wäre verblüfft, wie wenig Aufmerksamkeit wir der verzerrenden Wirkung schenken, die Schulden auf unser allerheiligstes Maß haben. Selbst unser meistgenutzter Versuch, die Schulden mit einzubeziehen, das Verhältnis von Schulden zum BIP, ist genau deshalb inadäquat, weil eine Seite der Gleichung (das BIP) selbst durch genau das Ding aufgeblasen wird, das gemessen werden soll. Die Schlussfolgerung des Aliens: Wir unterscheiden nicht wirklich zwischen schuldengetriebenem Wachstum und organischem, nachhaltigem. Wir müssen eine Zivilisation sein, die sehr wenig in die Zukunft blickt.
Das BIP korreliert noch immer einigermaßen mit Beschäftigung, Konsum und Steuereinnahmen – Variablen, die für das fiskalische und monetäre Management sehr wichtig sind, aber fast nichts über die Nachhaltigkeit oder die langfristige Gesundheit einer Ökonomie sagen. Ein Zufluss an Schulden kann alle drei hinauftreiben – und das BIP mit –, aber zukünftigen Generationen eine schwere Last hinterlassen.
Und dennoch ist unsere Fixierung auf diese unmittelbaren Indikatoren nicht zufällig: Sie spiegelt die tiefere Essenz moderner demokratischer Systeme, insbesondere im Westen, wo dieses Ethos in seiner konzentriertesten und mächtigsten Form gefunden werden kann. Politiker müssen die Wahlzyklen überleben, indem sie den unverständigen Massen schnelle Lösungen versprechen; Banker der Zentralbanken müssen das nächste Vierteljahr stabilisieren, und die Märkte leben zunehmend von Schlagzeile zu Schlagzeile. Alles wird hin zum Hier und Jetzt verzerrt. Das scheint uns so natürlich, dass kaum jemandem in den Sinn kommt, es in Frage zu stellen.
Noch kommen wir je auf den Gedanken, die Weise, wie wir über Volkswirtschaft denken, sei unauflöslich in eine tiefere Logik eingebettet. Das BIP erzählt uns, was wir hören wollen – und was innerhalb des vorherrschenden zivilisatorischen Ethos gesagt werden darf. Nicht mehr, nicht weniger.
Jedes zivilisatorische Ethos ist einen Hauch weit metaphysisch, ob es das zugibt oder nicht. Der römische Kaiser Konstantin sah ein Kreuz im Himmel und glaubte, die Worte zu hören: „In diesem Zeichen wirst du siegen.“ Der belgische Ökonom De Grauwe, dem seine eigene mystische Neigung völlig unbewusst war, öffnete eine Kalkulationstabelle und sagte: „In diesen Zahlen wird Russland nicht erobern.“
Henry Johnston ist ein in Moskau ansässiger Redakteur, der über ein Jahrzehnt in der Finanzwelt arbeitete.
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