Manchmal verändert sich ein Land nicht durch Revolutionen, sondern durch Einsicht. Die hilflose Reaktion des Bundeskanzlers auf den 12-Punkte-Plan der AfD – der auf mindestens 90-prozentige Zustimmung der CDU/CSU-Wähler und vielleicht auch CDU/CSU-Mitglieder beziehungsweise -Mandatsträger stoßen dürfte – verdeutlicht eine fundamentale Entwicklung. Die jüngsten Umfragen zeigen: Deutschland erlebt einen tektonischen Stimmungswandel. Dem linken Lager gäben ungefähr 20 bis 22 Millionen Menschen ihre Stimme. Addiert man CDU, CSU, AfD und FDP, so ergibt sich eine Wählerbasis von 24 bis 28 Millionen Menschen. Eine klare, zahlenstarke Mehrheit.

Diese Menschen verbindet kein gemeinsames Parteiprogramm. Aber ein gemeinsamer Instinkt: das Bewusstsein, dass die Bundesrepublik nicht mit den Rezepten der letzten 20 Jahre überleben wird. Diese Mehrheit steht nicht für Ressentiment oder Rückschritt. Sie steht für den Mut zur Zumutung. Sie hat erkannt, dass ein Staat, der sich mit moralischer Selbstbestätigung tröstet, seine ökonomische und institutionelle Substanz verliert. Sie fordert Reformen – nicht aus Wut, sondern aus Verantwortung. Ihre Botschaft lautet: Wir sind bereit, eigene Bequemlichkeiten zu opfern, um das Ganze wieder tragfähig zu machen.

Millionen Menschen gegen politische Selbstverleugnung

Demgegenüber steht das Lager, das noch immer glaubt, man könne die Strukturen der sozialen Marktwirtschaft durch Subventionen, Umverteilungen und neue Kredite stabilisieren. Es klammert sich an das Narrativ, jede fundamentale Korrektur sei Verrat an der sozialen Idee. Doch der Verrat besteht längst in der Weigerung, das Machbare vom Wünschbaren zu unterscheiden. Die Schulden, die man heute anhäuft, sind keine abstrakten Buchwerte. Sie sind ein stilles Enteignungsprogramm gegenüber kommenden Generationen.

Die Mehrheit, die Veränderung will, spürt diese Schieflage. Sie sieht, dass Wettbewerbsfähigkeit erodiert, dass Renten, Energie, Migration und Verwaltung nach denselben alten Mustern organisiert werden sollen – nach der Logik des moralischen Überbaus, nicht der wirtschaftlichen Tragfähigkeit. Der Gedanke, man könne mit immer mehr Gesinnung immer weniger Realität ausgleichen, hat ausgedient. Was hier sichtbar wird, ist kein populistischer Reflex. Es ist ein rationaler Reforminstinkt. Millionen Menschen sind nicht länger bereit, den Preis einer politischen Selbstverleugnung zu zahlen. Sie stehen, bewusst oder unbewusst, für eine Politik, die Leistung wieder mit Verantwortung, Freiheit mit rationaler Vernunft, und Zukunft mit Realismus verbindet.

Wille zur Disruption

Dieser Wille zur Disruption – zum bewussten Bruch mit dem Weiter-so – ist kein Zeichen von Radikalität, sondern von politischer Mündigkeit. Er ist die Wiedergeburt der Vernunft. Wer in diesen Zahlen nur Protest erkennt, hat nicht verstanden, dass Protest zur neuen Form von Loyalität geworden ist – zur Loyalität gegenüber der Idee eines leistungsfähigen demokratischen Rechtsstaates. Natürlich birgt jeder Wandel Risiken, aber Stillstand ist längst das größere Risiko. Ein Gemeinwesen, das unbequeme Wahrheiten nicht mehr ausspricht, delegitimiert sich selbst.

Deutschland steht heute nicht an einem sprichwörtlichen Scheideweg, sondern an einer veritablen Klippe. Der Aufruf zum Reformkurs ist kein ideologischer, sondern ein existenzieller. Die Mehrheit der Deutschen will nicht zerstören, sie will erneuern. Sie will, dass politische Verantwortung wieder bedeutet, das Machbare zu gestalten, nicht das Unerreichbare zu beschwören. Vielleicht ist das die eigentliche Überraschung dieser Umfragen: dass inmitten aller Spaltung und Erschöpfung die leise, aber entschlossene Bereitschaft wächst, das Notwendige zu tun – nicht weil es populär ist, sondern weil es überlebenswichtig geworden ist.

Wer genau hinhört, erkennt: Der Patient, den man lange für apathisch hielt, fängt gerade an, wieder wach zu werden. Friedrich Merz hat diese Fähigkeit zur Erkenntnis des Politischen seit seiner Wahl zum Bundeskanzler offenkundig verloren. Wenn sogar die überwältigende Mehrheit die Entschlossenheit zu einer disruptiven Reform des Landes gefunden hat, muss ein konservativer Kanzler diesen Ausweg für das Land erkennen. Friedrich Merz kann das nicht, und deshalb muss seine Kanzlerschaft jetzt zu Ende gehen.


(Kommentar von Tobias Gall in Kontrafunk aktuell vom 28.11.)

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