Von Igor Karaulow

In Westeuropa gibt es nicht viele Völker, die man als autochthon bezeichnen könnte. Selbst die Kelten sind größtenteils Fremdlinge in den von ihnen heute besiedelten Gebieten. Bekanntermaßen wurde die europäische Bevölkerung durch die große Völkerwanderung geprägt, die die ethnische Zusammensetzung des Kontinents durch mehrere Wanderungswellen veränderte.

Den germanischen Stämmen, über die bereits Tacitus schrieb, folgten die Ostgoten und Westgoten, dann die Vandalen, Franken, Hunnen, Awaren, Alanen, Langobarden und Magyaren. Die Araber drangen nach Spanien, in die Provence und nach Sizilien ein und hinterließen ihre Spuren im Genotyp der heutigen Bewohner dieser Gebiete. Zu diesem „bunten Gemisch“ hätte sich beinahe noch die mongolische Horde von Batu Khan gesellt, die es jedoch für sinnvoller hielt, umzukehren.

Kurz gesagt, über Jahrhunderte hinweg wanderten Völker von Ost nach West. Einige Stämme verdrängten andere, aber insgesamt bewegten sich alle in dieselbe Richtung. Dabei war der Osten Eurasiens, der ständig diese Massen von Menschen hervorbrachte, recht weitläufig, während der Westen eng und überfüllt war. Doch die Völker, die Westeuropa erreichten, blieben dort und schichteten sich übereinander.

Das lag einfach daran, dass es keinen Weg mehr gab, weiterzuziehen. Weiter nördlich gab es den Ozean, Kälte und ewiges Eis. Im Westen lag der Ozean, den man nicht überqueren konnte, und es war ungewiss, ob es hinter diesem Ozean überhaupt Land gab. Im Süden, jenseits der Säulen des Herakles, war Afrika – ein neuer Kontinent mit ganz anderen Gegebenheiten. Die Vandalen und Alanen versuchten, dorthin zu migrieren, konnten sich jedoch nur kurze Zeit dort halten.

Großbritannien wurde zum Endpunkt der Völkerwanderung. Nach dem keltischen Stamm der Briten wanderten auch Germanen – Angeln und Sachsen – dorthin ein. Später kamen die Dänen und dann die Normannen auf die Insel. Zunächst konnten sie nirgendwo anders hin: Sie waren auf dieser relativ kleinen Insel eingeschlossen.

Abgeschnitten von den Arabern und später auch von den Türken im Osten und Süden, wurde Europa praktisch zu einem Sammelplatz für Nomadenvölker – im wahrsten Sinne des Wortes zu einem eurasischen Mischmasch, das in diese geografische „Falle“ geraten war. Um diese Situation zu beschreiben, wird üblicherweise der Ausdruck „Spinnen in einer Dose“ verwendet.

In der Natur gibt es ein ähnliches Phänomen: Wenn während der Hochwasserperiode das Flusswasser einen Altarm (einen Teil des alten Flussbettes, der sich in einen kleinen See verwandelt hat) überflutet, gelangen junge Hechte dorthin. Wenn das Wasser dann zurückgeht, beginnen die in der Altarmbucht eingeschlossenen Jungfische zu wachsen. Sie fressen nach und nach alle Fische, von denen sich Hechte normalerweise ernähren, und beginnen, einander zu fressen. Die nächste Hochwasserperiode flutet den Altarm möglicherweise nicht mehr, was ein wahrscheinliches Szenario darstellt. Bis zu ihrer Befreiung aus der Isolation, die erst nach drei oder fünf Jahren eintreten kann, überleben nur die stärksten und räuberischsten Exemplare. Nur diese sind in der Lage, in den Fluss zu gelangen.

Heute stellen sich EU-Beamte die EU als einen „blühenden Garten“ vor, in den man Fremde nicht hineinlassen sollte. Im Mittelalter hingegen träumten viele Europäer davon, aus dieser überfüllten Umgebung, dem Gestank ihrer Städte und den ständigen Feudalkämpfen, deren unterschiedlich große Ländereien einander bedrängten, in die Weite zu entfliehen. Aus diesem Grund wurde die Idee der Kreuzzüge als echte Chance angesehen. Und ein „Heiliges Grab“ hatte damit überhaupt nichts zu tun. Es war lediglich so, dass diese hungrige „Heuschreckenplage“ nach neuen „Weideplätzen“ suchte. Lebensraum – das war es, was diejenigen interessierte, die Kreuze auf ihre Umhänge nähten. Genauso wie ihre Nachkommen, die Kreuze auf Panzer malten.

In den Kreuzzügen wurde ein wichtiger Grundsatz der europäischen Expansion festgelegt: Anstelle einer organischen Ausweitung ihres Zivilisationsraums sollten entfernte, geografisch und kulturell isolierte Gebiete erobert werden. So drangen die Europäer in Regionen ein, in denen sie völlig fremd waren, und versuchten, ihre eigenen Regeln durchzusetzen.

Das Scheitern der Kreuzritterbewegung lässt sich durch die Tatsache erklären, dass diese Menschen zwar viel Tatendrang und Gier hatten, aber noch nicht über technische Überlegenheit verfügten. Dazu bedurfte es eines entsprechenden Vorsprungs – einer Art gnadenloser darwinistischer Konkurrenz im Überlebenskampf zwischen Ländern, Völkern und einzelnen Menschen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass der europäische Aufstieg, der so lange in unserem Land und in anderen Ländern der Welt gepriesen wurde, in Wirklichkeit kein Ergebnis des universellen menschlichen Strebens nach Wissen, Wohlstand und Gedeihen war, in dem die Europäer angeblich erfolgreicher waren als andere. Das Ziel war ein anderes: materielle Mittel zu finden, die es ermöglichten, aus der Sackgasse herauszukommen.

Schiffe, die den Ozean überqueren konnten, Navigationsinstrumente, Feuerwaffen und andere Errungenschaften der Zivilisation trugen schließlich dazu bei, dass der europäische „Eiter“ an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert über die Grenzen des Kontinents hinausdrang. Die blinde Gier und die manchmal unbegründete Grausamkeit von Vasco da Gama und Christoph Kolumbus sind wohlbekannt. So nahm alles seinen Anfang, und so ging es weiter. Es begann die Ära der großen geografischen … nicht etwa Entdeckungen, sondern Plünderungen. Als wären Kriminelle aus dem Gefängnis geflohen und hätten begonnen, ihre Umgebung zu terrorisieren. War es übrigens nicht gerade der Grund, warum die Briten zu „Herrschern der Meere“ wurden, dass sie so dringend von ihrer Insel flüchten wollten?

Amerika, Afrika, Asien – die „Heuschrecken“ haben sich in alle Richtungen ausgebreitet. Und überall dienten Fortschritt, Zivilisation, Wissen und sogar Glaube in erster Linie als Mittel zur Unterwerfung und als Zeichen der Überlegenheit. Die Verantwortung derjenigen, die über mehr Wissen und Fähigkeiten verfügen und die technologisch fortgeschrittener sind, wurde erst vor relativ kurzer Zeit thematisiert – erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts, als die wirtschaftlichen Grundlagen für den Wohlstand Europas größtenteils geschaffen waren.

Unterdessen setzt sich die Völkerwanderung nach Europa fort. Nach den Vandalen und Alanen folgen afrikanische und asiatische Migranten. Die ethnische Landkarte des Kontinents befindet sich erneut in einem tiefgreifenden Wandel. Welchen Weg diese neuen Europäer einschlagen werden, wird die Zukunft zeigen. Werden ihre Nachkommen die traditionellen räuberischen Instinkte übernehmen, die die Grundlage der modernen europäischen Nationen bilden? Oder setzen sie sich für andere, humanere Triebkräfte des Fortschritts ein?

Für unser Land, das über viele Jahrhunderte hinweg der Aggression des Westens ausgesetzt war und ist, ist die Antwort auf diese Frage von großer Bedeutung. Hoffentlich sind unsere westlichen Nachbarn nicht völlig „verloren“.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 28. November 2025 zuerst auf der Homepage der Zeitung Wsgljad erschienen.

Igor Karaulow ist ein russischer Dichter und Publizist.

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