Von Dagmar Henn
Wenn man sein Leben in Deutschland verbringt, ist man sich gar nicht dessen bewusst, wie obsessiv viele dort übliche Verhaltensweisen sind. Über Jahrzehnte hinweg wurde der Deutsche auf Mülltrennung gedrillt; inzwischen ist die Beseitigung der Überreste des Haushalts aufwendiger als die Beschaffung der notwendigen Güter, weil die Liste, die man im Kopf haben muss, fast ebenso lang ist wie jene, auf der die Stellpositionen der wichtigsten Waren im nächsten Supermarkt verzeichnet sind. Es gab Generationen, die lernten stattdessen den Anfang der Ilias auswendig.
Aus der Ferne betrachtet war schon die Einführung des befestigten Flaschendeckels ausgesprochen komisch, und verschaffte bei der Öffnung jeder Limonadenflasche im russischen Exil ein kurzes Gefühl der Freiheit. Abgesehen davon, dass hier einfach gar nicht sortiert wird. Auch das erzeugt eine fast kindliche Freude – schließlich sind die Mühen der Müllkunde eine der Hürden, die ein junger Mensch überwinden muss, wenn er ein eigenständiges Leben beginnt.
Jetzt soll also der Biomüll genauer begutachtet und in einer ganzen Reihe von Kommunen in Deutschland Verstöße gegen die erforderliche Reinheit stärker geahndet werden. Das erinnert ein wenig an Freuds Theorie über die Entwicklungsphasen eines Kleinkinds, beginnend mit der Faszination über die erste eigene Hervorbringung im Töpfchen. Biomüllbegutachtung, das hat etwas von Töpfchenbeschau, noch weitaus stärker, als ginge es um die übrigen Mülltonnen (in die man, das war der letzte Streich in diese Richtung, inzwischen ja auch keine kaputten Kleidungsstücke mehr werfen darf; für die muss man eine Altkleidertonne suchen).
Eigenartigerweise scheint niemand im Land je auf den Gedanken zu kommen, wie beschwerlich dieses ganze Theater etwa für Menschen mit Gehbehinderung ist, oder wie aufwendig es mit kleinen Kindern sein kann. Richtig witzig daran ist aber, dass die ganze Nummer zwar einigen Firmen, die bestimmte Materialien einsammeln, gute Geschäfte beschert, aber in Summe eigentlich völlig überflüssig ist. Schlimmer noch – der deutsche Trennungswahn hat den technologischen Fortschritt sogar behindert.
Denn eigentlich lässt sich das ganze Zeug längst automatisch sortieren und die Zeit, die Millionen von Deutschen mit der ordentlichen Aufteilung ihrer Hinterlassenschaften verbringen, ist völlig unnütz vergeudet. Allerdings ist es die Mülltrennung selbst, die dafür sorgt, dass sich der Einsatz derartiger Sortieranlagen nicht lohnt: Die wertvollen Materialien könnten die Maschinerie refinanzieren, aber wenn sie zuvor aussortiert wurden, passiert das nicht mehr. Wenn jetzt Strafen verhängt werden, wenn mehr als ein Prozent Plastik im Biomüll ist, dann auch deshalb, weil sich eine automatische Sortierung eben nicht rechnet. Wäre, wie früher, alles in einer Müllladung, also auch Dosen, Kunststoffe, Papier, dann würden im Verlauf der automatischen Trennung genug Materialien anfallen, die einen eigenen Wert besitzen.
Allerdings, die ganze Trennerei wieder abzuschaffen, weil sie als menschliche Tätigkeit eigentlich obsolet ist, klappt in Deutschland auch nicht, weil die Trennerei noch einen Nebeneffekt hat, der ein klein wenig der katholischen Beichte ähnelt: Sie erinnert immer wieder an die Sündhaftigkeit. In diesem Fall die Sündhaftigkeit des Konsums, selbst des Lebenswichtigen, der sich letztlich immer in Müll verwandelt, an dem man sich dann abarbeiten muss. Bei den neuen Biomüllkontrollen werden dann auch noch Aufhänger an den Tonnen hinterlassen, damit wenigstens die ganze Nachbarschaft Bescheid weiß; so in Reutlingen. Grün für brav sortiert, gelb für, naja … von wegen Datenschutz und so.
Ehrlich gesagt, die meisten deutschen Ökos bekämen hier in Russland einen Herzinfarkt. Schon allein wegen der Verpackungen. Ich habe mir einmal Balkonmöbel bestellt, die waren in so viele Lagen Luftpolsterfolie gepackt, man hätte sie aus dem Flugzeug abwerfen können. Während man in Deutschland inzwischen hoffen muss, wenigstens noch ein Tütchen für Gemüse und Obst zu bekommen, kann man sich hier vor Plastiktüten und -folien gar nicht mehr retten, und man braucht manchmal fast so viel Zeit, um einen Gegenstand auszupacken, wie man in Deutschland bräuchte, um seine Verpackung wieder loszuwerden.
Jedenfalls, hätte es nicht diese jahrzehntelange Erziehung zur zwanghaften Müllbehandlung gegeben (und man muss nur einmal den Chef einer Müllverbrennungsanlage über Mülltrennung fluchen hören), es wäre etwas schwieriger, solche Dinge wie eine CO₂-Steuer durchzusetzen. Die Mülltrennung übt eine Kasteiung ein, die es dann ermöglicht, noch ganz andere Dinge aufzuerlegen – schließlich sind wir alle Müllsünder und müssen Buße tun.
Dafür wird jetzt KI eingesetzt, um Plastik im Biomüll zu erkennen, zumindest in Uelzen, meldete der NDR. Die B.Z. verteilte aus diesem Anlass gute Ratschläge, wie beispielsweise die Biotonne nach dem Ausspülen mit verdünntem Essigwasser zu besprühen und Natron oder Backpulver zur Geruchsminderung zu nutzen. Ja, man kann einen richtigen Lebenszweck daraus machen. Kein Wunder, dass zwanghaftes Verhalten, wie Veganismus, so leicht als normal durchgeht.
Und ich höre jetzt auf, hole mir eine frische Flasche Limonade und mache den Deckel runter, einfach so. Ein Hoch auf die Freiheit!
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