Von Astrid Sigena

In der heutigen Zeit kommt es immer mal wieder vor, dass man sich die Augen reibt und sich fragt, ob ein Text ernst gemeint oder Satire ist. Im litauischen Online-Magazin Bernardinai.lt erschien am 21.10.2024 ein Interview mit drei Frauen aus der litauischen Kultur- und Medienszene, das deren Russophobie und provinzielle Engstirnigkeit dermaßen bloßstellt, dass man zunächst geneigt ist, an eine böse Absicht der Redaktion zu denken. Nur die Tatsache, dass es sich um ein katholisches Medium handelt, schließt das aus.

Interviewt werden Aušra Kaminskaitė (Kritikerin für darstellende Künste), die Journalistin und Filmkritikerin Monika Gimbutaitė sowie Rasa Murauskaitė-Juškienė, Musikwissenschaftlerin und leitende Redakteurin von LRT Klasika (LRT ist der litauische öffentlich-rechtliche Rundfunk). Und trotz der holprigen, computergenerierten Übersetzung wird deutlich, dass den drei Damen (und wohl auch der Autorin Ugnė Tulaitė) die Weltgeltung der russischen Kultur so gar nicht passt. Stattdessen wird ganz offen der Zensur das Wort geredet.

Gerade das Kino sei ein Einfallstor für „russische Propaganda“, ein Mittel der russischen „soft power“, ihre Narrative zu verbreiten, so Frau Gimbutaitė. Musik und Kunst seien schon immer politisch gewesen und speziell in der Sowjetzeit als Propagandamittel eingesetzt worden (Murauskaitė-Juškienė). Leider sehe das der Westen gar nicht ein und zeige im Namen der Freiheit der Kunst immer noch Werke russischer Filmemacher auf renommierten Filmfestivals.

Auch dass die Opernsängerin Anna Netrebko weiterhin im Westen auftreten kann, obwohl sie sich nach der Meinung von Murauskaitė-Juškienė nur aus Karrieregründen gegen den Ukraine-Krieg ausgesprochen habe, sorgt für Empörung.

Neben dem Film „Russians at war“ von Anastasia Trofimowa (RT DE berichtete über die Proteste ukrainischer Aktivisten und Offizieller gegen die Aufführung im Westen) arbeitet man sich insbesondere an Anton Tschechows Theaterstück „Onkel Wanja“ ab, speziell an dessen Neuinszenierung als Einmannstück (in Simon Stephens’ Adaption) durch den britischen Regisseur Sam Yates mit dem Iren Andrew Scott in der Hauptrolle. Leider sei die Verfilmung der Inszenierung in westlichen Kinos zu sehen.

Nun könnte man meinen, Tschechows „Onkel Wanja“ sei ein furchtbar national-hurra patriotisches Stück aus dem russischen Zarenreich? Weit gefehlt! Wie so oft bei Tschechow sind seine Charaktere durchaus sympathische Personen, die am Leben gescheitert sind, ihrem Scheitern aber meist nicht einmal durch einen großen Knall die Würde einer Tragödie verleihen können und letztendlich so weiter wursteln wie bisher.

Doch nicht schlimm genug, dass „Onkel Wanja“ ein russisches Stück ist! Die Dritte im Bunde der Möchtegern-Zensorinnen, die Theaterkritikerin Kaminskaitė, kann zwar konstatieren, dass die Zahl der in Litauen aufgeführten Stücke russischer Herkunft abgenommen habe, jedoch seien immer noch Entschuldigungen für deren Inszenierungen zu hören: „Es ist jedoch viel einfacher, sich zu entschuldigen, dass es sich bei diesen Autoren um Menschen handelt, die nicht in der Nähe von Putin gelebt haben, als die Einstellung zu ändern.“ Sie gesteht Tschechow, Gogol und Tolstoi zwar eine hohe literarische Qualität zu. Es sei aber möglich, sie zu ersetzen (leider verrät uns Frau Kaminskaitė nicht, durch welche literarischen Werke – speziell litauische – diese großen Meister ersetzt werden sollen), und das sei auch bitter nötig, denn in diesen Werken sei der Geist des Imperialismus zu spüren. Zudem glorifiziere diese Literatur Landstreicher und Kriminelle, während sie die Intelligenz erniedrige. Die Hauptfiguren seien müde, schikanierte Menschen. Also wohl zu deprimierend und destruktiv für das gesunde litauische Volksempfinden?!

Leider, leider würden andere Länder nicht begreifen, welch einen langfristigen Schaden schon die einmalige Aufführung von „Onkel Wanja“ anrichten könne – als Einfallstor für russische Propaganda (bedauerlicherweise erklärt uns Frau Kaminskaitė ebenfalls nicht, wie uns der lebensmüde Onkel Wanja zum Putinisten machen kann – aber wahrscheinlich ist das ein litauisches Staatsgeheimnis, an dem der Kreml sicher sehr interessiert wäre – deshalb: Pssst! Ne boltai!).

Der Gipfel der chauvinistischen Borniertheit ist schließlich erreicht, als Frau Murauskaitė-Juškienė bedauert, dass man die bereits verstorbenen russischen Komponisten nicht mehr nach ihrer Haltung zum Ukraine-Krieg befragen könne und daher nicht wisse, ob sie ihn verurteilt hätten. Eine schwierige Komplikation. Da bleibt man sprachlos.

Während die großen litauischen Konzerthäuser russische Komponisten bereits zu Beginn des Ukrainekriegs aus ihrem Repertoire entfernt und nur noch im Ausnahmefall gespielt hätten – das ganz ohne ein allgemeines Aufführungsverbot russischer Komponisten verhängen zu müssen, lobt Murauskaitė-Juškienė –, sei der Westen nicht bereit, beispielsweise auf Rachmaninow zu verzichten, der im vergangenen Jahr (seinem Jubiläumsjahr) der meistgespielte Komponist in westlichen Konzertsälen gewesen sei – obwohl die Russen ihre klassische Musik als „soft power“ benutzen würden. Dem verständnislosen Westen (speziell den Briten und den Franzosen) fehle einfach die jahrhundertelange Besatzungs- und Kolonialisierungserfahrung durch die Russen, die die Balten hätten erleiden müssen. Der Verzicht auf russische Komponisten sei für die Litauer eine Form der Dekolonialisierung.

Genug davon!

Manchmal kommt es zu Koinzidenzen, die einem – wenn man sie erzählt – kaum einer glauben mag, und doch sind sie wahr. So erging es der Autorin dieser Zeilen, als sie nach der Lektüre des russophoben Interviews in einer Art Trotzreaktion die in ihrem Haushalt vorhandene reclam-Ausgabe von Tschechows „Onkel Wanja“ aufschlug. Zunächst fiel Ihr Blick auf einen Satz im Nachwort, der nüchtern konstatierte, dass nach 1933 Tschechow in Deutschland nicht mehr gespielt worden sei, erst wieder 1945, nach dem Ende des Nationalsozialismus. Die erste Wiederaufführung von „Onkel Wanja“ nach dem Krieg habe 1945 in Berlin durch Gustav von Wangenheim stattgefunden. Kann „Onkel Wanja“ auch als Gradmesser für die Ernsthaftigkeit des „Nie wieder!“ dienen?

Dieser Artikel sollte eigentlich mit einem flammenden Appell an unsere Landsleute in der neu geschaffenen „Brigade Litauen“ enden, beim Packen für die Reise ins Baltikum doch bitte nicht eine Ausgabe von Tschechows „Onkel Wanja“ zu vergessen. Als kleine Freude für die weltoffeneren Persönlichkeiten unter den neuen litauischen Freunden. In der Zarenzeit wurden schließlich auch in Lateinschrift geschriebene litauische Publikationen von Ostpreußen in das damals russische Litauen geschmuggelt. Bald könnte es wieder nötig sein, sich aufs Bücherschmuggeln nach Litauen zu verlegen, zumindest wenn es nach der geistigen Borniertheit der drei Journalistinnen geht. Sie beklagen zwar lautstark die zaristische und sowjetische Besatzung, sind aber auf dem besten Wege, sich einen neuen geistigen Totalitarismus in ihrem Land zu schaffen – diesmal ganz freiwillig.

Aber die Bundeswehr hat in Litauen anderes zu tun, als sich um die Freiheit des literarischen Wortes zu kümmern. In Zeiten wiedererwachender Forderungen nach „Kriegstüchtigkeit“ befürchtet man in Russland, dass der deutsche „Drang nach Osten“ noch nicht erloschen ist: statt – wie im Mittelalter – „die Eisenfaust am Lanzenschaft“, diesmal eben mit Leoparden und Taurus-Lenkflugkörpern. Dazu braucht es womöglich nicht einmal die entsprechende Ideologie aus dem 20. Jahrhundert. Der Blogger Michail Onufrijenko bemerkt des Öfteren, dass die zunehmende Verarmung die Westeuropäer (und speziell die Deutschen) fast wie von selbst in den Militarismus und eine Steigerung der Aggression gegen Russland treiben könne. Und das neueste Werbevideo der Bundeswehr, wo ein gemütlich schwäbelnder Hauptfeldwebel Kai den unter einer grassierenden Wohnungsnot leidenden Bundesbürgern den Litaueneinsatz mit touristischem Sightseeing in Vilnius und der Besichtigung komfortabler Wohnungen schmackhaft macht, könnte ein weiteres Indiz für Onufrijenkos These sein. Man stelle sich vor: Dort bekommt man die erste Wohnung, die man besichtigt! Noch dazu möbliert! Und die Einheimischen kriegen sich vor Dankbarkeit gegenüber den deutschen Beschützern nicht ein!

Doch davon sollte man sich als Deutscher nicht blenden lassen. Wen der schlimme Ausgang des Ostfeldzuges im 20. Jahrhundert nicht abschreckt, der sollte immerhin bedenken, dass neulich selbst die siegesgewissen US-Generäle Breedlove und Hodges im Kriegsfall von über 3.500 Verlusten in den ersten zehn Tagen ausgehen (bei rund 4.800 deutschen Soldaten und ca. 16.000 Soldaten des litauischen Heeres recht hohe Verluste!). Und wenn einem das eigene Leben egal ist, dann muss es einen nicht stutzig machen, mit welchem Eifer sowohl litauische als auch deutsche Offizielle darauf dringen, dass sich auch die Familien der deutschen Soldaten in Litauen ansiedeln? Einem Land, das im Ernstfall wohl als erstes vom Krieg betroffen wäre? Es wäre außerdem nicht das erste Mal, dass ein Krieg mit einer False-Flag-Aktion eingeleitet wird. Speziell, wenn Kinder betroffen wären, würde die Empörung in der Heimat nicht mehr einzufangen sein (falls man das überhaupt will). Fälle wie die Brutkastenlüge von 1990 sollte man stets im Hinterkopf behalten.

„Onkel Wanja“ verteidigt man besser hier in Deutschland. Und um Tschechow nach Litauen zu schmuggeln, braucht man nicht die Bundeswehr.

Mehr zum Thema – Broschüre zum Bunkerbau: Wie sich Bürger im Kriegsfall selbst schützen sollen

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