Von Wladimir Kornilow
In der Ukraine riecht es deutlich nach einem Putsch. Zumindest erklingt dieses Wort ständig in den letzten Tagen. Alles hat mit dem unerwarteten Erscheinen des entlassenen, aber nicht vergessenen Generals Waleri Saluschny am Kiewer Bahnhofsgleis begonnen. Er erschien dort am 11. September gemeinsam mit dem US-Außenminister Antony Blinken und dessen britischem Amtskollegen David Lammy. Bereits nach einem Tag erschien bei der digitalen Zeitung Politico ein Artikel unter einem bezeichnenden Titel: „Selenskijs Machtergreifung ist schlecht für die Ukraine“.
„Ganz plötzlich“ bemerkte die Zeitung die Tatsache, dass Selenskij Wahlen abgeschafft hat und bei seiner Kaderpolitik Willkür demonstriert. Zunächst wurden die Namen der „zu Unrecht beschuldigten“ genannt – der jüngst entlassene Außenminister der Ukraine Dmitri Kuleba und der ehemalige Oberbefehlshaber des ukrainischen Militärs Waleri Saluschny. Gepriesen wurden sie ausgerechnet für ihre Loyalität zum Westen. Politico wörtlich: „Sowohl Kuleba als auch Saluschny wurden von westlichen Beamten bewundert, und ihr Rücktritt sorgte für eine gewisse Unruhe.“ Darauf folgen unverhohlene Lobpreisungen an den abgedankten General, dessen Entlassung die Zeitung in Verbindung mit Selenskijs Eifersucht wegen der Popularität eines potenziellen Konkurrenten im Machtkampf bringt.
Darauf folgten flutartig Artikel westlicher Medien und Kommentare von frondierenden ukrainischen Analytikern (die in der Regel aus der Ukraine längst geflohen sind), in denen zwei Schlüsselworte vorkamen: „Saluschny“ und „Staatsstreich“. Die italienische Zeitung Il Fatto Quotidiano veröffentlichte einen Artikel unter dem Titel: „Selenskij ist ein postsowjetischer Autokrat“. The Washington Post publizierte einen riesigen Frontseitenartikel, in dem ukrainische Militärs offen mit einem Putsch drohen. Die Kirsche auf der Torte ist ein Artikel im bereits erwähnten Politico, in dem Selenskij direkt der abenteuerlichen Entscheidung, das russische Gebiet Kursk zu überfallen, beschuldigt wird und behauptet wird, dass Saluschny versucht habe, seinen Vorgesetzten von diesem Vorhaben abzubringen.
Nun diskutieren ukrainische Kommentatoren über die Frage, ob eine gewaltsame Beseitigung von Selenskij möglich sei und ob Saluschny seine Kampagne begonnen habe – genauer gesagt, ob die Briten Saluschnys Kampagne begonnen haben. Zumindest sagt der Professor des Kiewer Instituts für Journalistik, Nikita Wassilenko, offen: „Wer wird als Nachfolger des Führers vorbereitet? Offensichtlich Saluschny. Ein Beleg dafür ist das Buch ‚Der eiserne General‘, das für englisches Geld in England veröffentlicht wurde. Solche Bücher erscheinen in der Regel vor dem Start einer Wahlkampagne. Doch hier wird es keine Wahlkampagne geben. Militärs verstehen das Wort ‚Wahlen‘ nicht, weil sie eben Militärs sind. Ein Wechsel kann nur gewaltsam erfolgen.“
Das besagte Buch wurde vor Kurzem von Ljudmila Dolgonowskaja, ehemalige Beraterin Saluschnys für strategische Kommunikation, vorgestellt. Es erschien unter dem Titel „Der Eiserne General. Lektionen der Menschlichkeit“ und ist sowohl eine unverhohlene Werbung für den entlassenen General als auch ein Angriff auf Selenskij persönlich. Darin ist alles so dargestellt, als sei für sämtliche „richtigen“ Entscheidungen in den ersten Monaten nach dem Beginn der russischen Spezialoperation immer der Oberbefehlshaber des ukrainischen Militärs verantwortlich und für sämtliche Fehler und Niederlagen immer der Präsident.
Und wenn Wassilenko nicht lügt, dass „englisches Geld“ hinter dem Erscheinen des Buchs stehe, entsteht ein interessantes Bild: Britische Ressourcen bewerben Saluschny, lassen Selenskij endgültig fallen und bringen dann in einem „plombierten Wagen“ in die Ukraine „den großen siegreichen General, der die Nation der unfähigen politischen Führung zum Trotz rettete“. Bedenkt man den Ursprung der Phrase „plombierter Wagen“, drängen sich ebenfalls interessante Parallelen auf. Genau so bezeichneten die britische Presse und Politiker die Reise Wladimir Lenins und sonstiger prominenter Vertreter der sozialdemokratischen Bewegung aus dem Exil nach Russland im Frühling 1917, die von Deutschland unterstützt wurde.
Diese Phrase beeindruckte Winston Churchill so sehr, dass er in seinen Memoiren von der deutschen Aktion schrieb: „Mit einem Gefühl der Ehrfurcht schickten sie gegen Russland die schrecklichste aller Waffenarten. Sie transportierten Lenin in einem plombierten Wagen, wie eine Pestbazille, aus der Schweiz nach Russland.“ Bedenkt man, wie sorgfältig man im modernen Großbritannien Churchill studiert und nachzueifern versucht, wäre es nicht verwunderlich, wenn sie „mit einem Gefühl der Ehrfurcht“ die gleiche Aktion durchzuführen beschlossen, um Saluschny zu restaurieren. Dann kommt ein „plombierter Wagen“ nach Kiew!
Im Übrigen führte Deutschland genau ein Jahr nach der Aktion mit dem „plombierten Wagen“ in der besetzten Ukraine eine Operation durch, die den heutigen Realitäten viel näher sein könnte. Im Frühling 1918 wurden sie der ständig nörgelnden Oberhäupter der Kiewer Zentralna Rada überdrüssig. Darauf entmachteten sie schlicht die Marionettenführung der Ukraine mithilfe einer Halbkompanie deutscher Soldaten und setzten den in den dortigen Kreisen ehemals beliebten General Pawel Skoropadski als Statthalter ein. Drängen sich da keine Parallelen zu mutmaßlichen britischen Plänen bezüglich Saluschny auf?
Natürlich bedeutet das nicht, dass der Staatsstreich unbedingt stattfinden wird. Zumindest in der ukrainischen Öffentlichkeit gibt es diesbezüglich unterschiedliche Ansichten. So vermutet der Politologe Wadim Karassew, dass es in der Ukraine heute keine „angesehenen Generäle“ gebe, die einen Putsch organisieren könnten. Der sich in Untersuchungshaft befindende ukrainische Volksabgeordnete Alexandr Dubinski meint seinerseits, dass ein Umsturz im Fall eines endgültigen Verzichts Selenskijs auf Wahlen möglich sei. Der ehemalige Asow-Terrorist Igor Mossijtschuk äußerte dagegen seine Skepsis bezüglich der Möglichkeit eines Militärputsches, bestätigte allerdings, dass die westlichen Herren beschließen könnten, Selenskij zu ersetzen. Die Meinungen gehen freilich auseinander, dennoch ist es beachtenswert, wie alle darüber zu sprechen begannen. Das ist sicher kein Zufall.
Doch alle verstehen, dass das letzte Wort bei Amtsbestellungen in der Ukraine nicht bei den Briten liegen wird, die heute Saluschny, den nominellen Botschafter der Ukraine in London, betreuen. Bei diesem Pan wird viel von der bevorstehenden Reise Selenskijs in die USA abhängen. Es ist kein Geheimnis, dass er hofft, sich dort sowohl mit dem amtierenden Präsidenten der USA als auch mit beiden Präsidentschaftskandidaten zu treffen. Man kann sich daher ausmalen, wie unruhig Kiew wurde, nachdem John Kirby ankündigte, dass Joe Biden vorerst kein Treffen mit Selenskij plane. Beim Weißen Haus in Ungnade zu fallen kommt für den Kiewer Alleinherrscher dem Tod gleich. Schließlich gab man ihm zu verstehen: Der Zug mit dem „plombierten Wagen“ ist bereits startklar.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 20. September.
Wladimir Kornilow ist ein sowjetischer, ukrainischer und russischer Politologe, Geschichtswissenschaftler, Journalist, Schriftsteller und gesellschaftlicher Aktivist. Er ist der ehemalige Leiter der ukrainischen Filiale des Instituts der GUS-Staaten in Kiew und Leiter des Zentrums für Eurasische Studien in Den Haag. Nach seiner scharfen Kritik am Euromaidan musste er aus der Ukraine flüchten und arbeitet seit 2017 als Kolumnist bei Rossija Sewodnja. Er führt eine Telegram-Kolumne zu aktuellen politischen Themen.
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