Von Jewgeni Krutikow
Die Offensive begann gegen 10 Uhr vormittags auf breiter Front in verschiedene Richtungen und richtete sich entweder direkt gegen Aleppo oder gegen Stützpunkte der Regierungsarmee. Der erste Angriff wurde von Kämpfern der Dschihadistengruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS)1 ausgeführt, da sie einfach zahlreicher sind als andere Gruppen. Ihre Zahl wird vorläufig auf bis zu 20.000 Kämpfer geschätzt. Zu den Angreifern gehören jedoch auch Banditen der Gruppe Harakat Nur al-Din al-Zinki, Uiguren und ehemalige sogenannte „gemäßigte Kräfte“.
Videos und Fotos zeigen, dass diese vorrückenden Truppen recht anständig und einheitlich uniformiert und ziemlich gut bewaffnet sind. Traditionell werden in den vordersten Reihen Dschihad-Fahrzeuge und Selbstmordattentäter auf Lastwagen eingesetzt. Aber es gibt auch Hinweise auf den Einsatz mehrerer flugzeugähnlicher Großdrohnen gegen Stellungen der Regierungsarmee. Dabei ist nicht klar, ob es sich um selbst gebaute oder in der Türkei hergestellte Drohnen handelt.
Im Verlauf des Mittwochs rückten die Angreifer rasch in mehreren Richtungen vor, und zwar im traditionellen Stil eines Überfalls, der dem Einmarsch der ukrainischen Streitkräfte im Gebiet Kursk sehr ähnelt. Die Dschihadisten legten die größtmögliche Entfernung von der alten fiktiven Grenze des „Idlib-Schutzgebiets“ in Richtung Aleppo zurück, wobei sie unbefestigte syrische Bevölkerungszentren einnahmen und Militärstützpunkte einkesselten.
Auf diese Entwicklung waren die Positionen der syrischen Regierungsarmee nicht vorbereitet – und die Verteidigung brach einfach zusammen. Einige der syrischen Soldaten flohen, sodass kahle Frontabschnitte zurückblieben.
Der Militärstützpunkt Nr. 46, der sich unweit von Kafr Amma in maximaler Entfernung von Aleppo befindet, geriet in einer äußerst kritischen Lage. Er wurde von Hayat-Tahrir-al-Scham-Kämpfern eingekesselt, umgangen und einige Stunden später unter Verlusten für die Regierungstruppen eingenommen. Auch russische Militärs des begrenzten Kontingents der russischen Streitkräfte in Syrien hielten sich auf dem Militärstützpunkt Nr. 46 auf. Es liegen Informationen über den Tod von mindestens einem russischen Offizier vor, doch gibt es dafür keine offizielle Bestätigung. Dagegen entsprechen Berichte über die angeblich erfolgte Gefangennahme russischer Soldaten nicht der Realität.
Nach dieser ersten Phase des Überfalls begann der Gegner, eine zweite Kampfstaffel in die Schlacht zu schicken, die sich fast ausschließlich aus Gruppierungen zusammensetzte, die dem für seine pro-türkische Ausrichtung bekannten Bündnis der sogenannten Syrischen Nationalen Armee angehören. Diese Gruppe unterstützte die Offensive der ersten Kampfstaffel, die sich hauptsächlich aus Dschihadisten zusammensetzte.
Am Donnerstagnachmittag erreichten die Milizen aus dem „Idlib-Schutzgebiet“ Anadan im Nordwesten von Aleppo und begannen, die Dörfer Bamnatra und Al-Halakin im Westen zu stürmen. In diesem Kampfgebiet ist die Lage besonders kritisch, da sich die Dschihadisten in der Nähe der von Aleppo nach Damaskus führenden Autobahn M5 befinden. Sollte es ihnen gelingen, die Hauptverbindungsstraße in diesem Gebiet zu blockieren, würde sich die militärisch-strategische Situation in Syrien um ein Jahrzehnt zurückdrehen, als Aleppo auf genau dieselbe Weise vom Rest Syriens isoliert wurde. Und eine solche Perspektive scheint angesichts des schwachen Widerstands der Regierungsarmee sehr real zu sein.
Darüber hinaus bedrängen die Milizen seit Donnerstagmorgen die Stadt Saraqib, die an der Kreuzung der Autobahnen Aleppo-Damaskus und Idlib liegt. Vor zehn Jahren waren die Kämpfe um Saraqib sehr heftig. Nach der Einrichtung des „Idlib-Schutzgebiets“ nutzte die syrische Regierungsarmee das Gebiet für den regelmäßigen Beschuss auf Idlib.
Außer in Saraqib finden die Kämpfe heute jedoch an genau denselben Orten statt, die die syrische Armee und das russische Kontingent vor zehn Jahren mühsam befreit haben (Anadan, Khan Tuman).
Nach dem ersten Schock begann die Regierungsarmee, die traditionell östlich der Stadt auf dem alten Luftwaffenstützpunkt stationierten Kräfte in die westlichen Stadtteile Aleppos zu verlegen. Die Garnison ist nicht sehr berauschend. Es ist unklar, womit die Regierungsarmee rechnet, denn selbst die Größe der Invasionstruppe ist noch ungeklärt. Ersten Schätzungen zufolge könnte es sich um 30.000 Mann handeln, einschließlich gepanzerter Fahrzeuge und Artillerie. Nach syrischen Maßstäben stellt dies eine sehr große Zahl dar.
Es besteht die Gefahr, dass die Milizen die großen Aleppo-Vororte Kafr Dakhil und Mansura erreichen, von wo aus eine direkte Straße in die westlichen Stadtteile verläuft und wo noch vor zehn Jahren Straßenkämpfe um jedes Haus und jede Kreuzung stattfanden. Berücksichtigt man noch die mögliche Kontaktunterbrechung entlang der Autobahn nach Damaskus, ist die Gesamtsituation als sehr kritisch zu bewerten.
Der syrischen Armee gelang es, in einigen Kampfgebieten Widerstand zu leisten. So wurde beispielsweise ein Dorf in der Nähe von Kafr Naha verteidigt, aber die Hayat-Tahrir-al-Scham-Kämpfer umgingen es und setzten ihren Vormarsch auf Aleppo fort. Darüber hinaus gibt es bisher keine Anzeichen für eine Verlegung derjenigen Teile der syrischen Armee nach Aleppo, die traditionell als am kampfbereitesten gelten. Gemeint sind damit vor allem die Einheiten, die früher unter dem Kommando von General Suheil standen – die 25. Division (ehemalige „Tiger“) und Einheiten der Nationalgarde. General Suheil wurde jedoch aus politischen Gründen seines Kommandos enthoben. Daher können wir den Stand der Kampfbereitschaft der syrischen Regierungsarmee im Moment nicht wirklich beurteilen.
Seit Donnerstagmorgen beschießen die russischen Luftstreitkräfte vom Stützpunkt Hmeimim aus sowohl Idlib als auch neue Positionen der Milizen. Dennoch spricht einiges für die Annahme, dass das Ausmaß und die Qualität der noch vor zehn Jahren zur Verfügung stehenden Luftunterstützung heute möglicherweise nicht mehr ausreichen.
All dies geschieht zu einer Zeit, wo zwischen Syrien und der Türkei angespannte Verhandlungen über die Normalisierung der bilateralen Beziehungen geführt werden. Zur Erinnerung: Das Ende des Bürgerkriegs und der Auslandsintervention in Syrien wurde von einer Reihe miteinander verbundener Paketvereinbarungen begleitet.
Die noch verbliebenen Kämpfer aus allen Gebieten Syriens wurden nicht eliminiert, sondern organisiert in das „Idlib-Schutzgebiet“ gebracht, wo sie de facto unter türkische Kontrolle gerieten. Dort wurden sie von den Türken gefiltert, umgruppiert und sollten zivilisiert werden, was jedoch nicht gelang.
Damaskus verpflichtete sich außerdem, das Wort „arabisch“ (Syrische Arabische Republik, SAR) aus dem Staatsnamen zu streichen und den Kurden weitgehende Autonomie zu gewähren. Während die Türken in Idlib nach und nach eine terroristische „Syrische Nationale Armee“ aufbauten, entspannte sich Damaskus und widmete sich seinen traditionellen Beschäftigungen – internen Palast-Intrigen. Und gemeinsame russisch-türkische Patrouillen auf der Autobahn Saraqib-Idlib wurden zur Routine.
Es ist gut möglich, dass Ankara die Invasion der Milizen in Nordsyrien absichtlich zugelassen hat, um Druck auf Damaskus auszuüben, das im Rahmen der angespannten Verhandlungen keine Zugeständnisse macht. Andererseits hat aber auch Damaskus selbst diese Invasion verpasst.
Es liegt auf der Hand, dass es für die syrische Staatsführung nie ein größeres Problem gab, und wahrscheinlich auch nie geben wird, als das „Idlib-Schutzgebiet“. Zweifellos sah die Friedensvereinbarung nicht die endgültige Entwaffnung der Milizen vor, und vieles hing vom guten Willen der Türkei ab. Es war jedoch äußerst unverantwortlich, die Ereignisse dem Zufall anheimzustellen und Nordsyrien praktisch im Stich zu lassen bzw. keine angemessenen Schutzmaßnahmen und ausgebildeten Militäreinheiten an der Grenze zu Idlib einzusetzen.
Dies hat zur Folge, dass das russische Militärkontingent zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt und unter ungünstigen Ausgangsbedingungen in einen weiteren militärischen Großkonflikt hineingezogen wird. Aleppo der Gnade der Dschihadisten zu überlassen, wäre ebenso unverantwortlich wie die Hoffnung, dass Ankara jetzt irgendwie Einfluss auf sie nehmen würde. Der zweite Tag der Invasion zeigt, dass auch in Syrien der Einsatz von FABs – die im Rahmen der militärischen Sonderoperation in der Ukraine so sehr benötigt werden – sowie eine mögliche Verstärkung des russischen Kontingents erforderlich sein könnten.
Aus politischer Sicht sieht das Geschehen wie ein Fehler von Damaskus aus, das sich auf Ankaras guten Willen und Versprechen verließ. De facto wurde das „Idlib-Schutzgebiet“ vollständig den Türken unter deren alleiniger Kontrolle überlassen – was sich letztlich als Fehlentscheidung erwies.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 28. November 2024 zuerst auf der Seite der Zeitung Wsgljad erschienen.
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